DIE ZERSTÖRUNG DER FAMILIEN SELTEN UND LUSTIG

Über die Familie Selten, das Ehepaar Ernst und Elsa und ihren Sohn Fritz, die in der Mommsenstraße 6 wohnten, wussten wir wenig.  Dann machten wir im Oktober 2020 via Email zunächst die Bekanntschaft von Alison Sloan, geborene Goodall, in England, Großnichte Ernst Seltens, und, vermittelt durch sie, die von Nic Pulford und seiner Frau Tricia, geborene Lustig, Großnichte Elsa Seltens, in Holland. Von ihnen erhielten wir wertvolle Informationen und drei Fotos von den Kindern.

Ernst Selten kam am 25. September 1885 in Charlottenburg als Sohn von Isidor Selten und Anna Selten, geb. Pringsheim, zur Welt, sein älterer Bruder Franz Simon am 5. Oktober 1881, seine jüngere Schwester Gertrud (Trude) Rosalie am 15. September 1886. Die Brüder Franz Simon und Ernst hatten viel gemeinsam. Sie waren Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg, studierten Jura, promovierten, ließen sich als Rechtsanwälte nieder, wurden Notare.

Elsa Selten wurde am 12. Februar 1887 als Tochter von Leopold Lustig und Marie Lustig, geb. Lewin, in der damals noch selbständigen Stadt Cöpenick geboren. Bei der Bildung von Groß-Berlin änderte man 1920 die Schreibweise in Köpenick. Sie hatte zwei jüngere Brüder, Harry, geboren am 6. September 1888 in Cöpenick und Gustav, geboren am 18. Juli 1891 in Berlin. Eines der entzückenden Fotos, die wir von Tricia und Nic Pulford bekamen, zeigt die Geschwister Harry, Elsa und Gustav Lustig. Als die Aufnahme gemacht wurde, wird Elsa acht oder neun Jahre alt gewesen sein.

DIE GESCHWISTER LUSTIG    © Tricia und Nic Pulford

In den „Verzeichnissen wahlfähiger Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“, die sich im Archiv der „Neuen Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ in der Oranienburger Straße 28 befinden, sind Ernst Selten und sein Vater Isidor in den Ausgaben 1913 und 1916 mit der Adresse Lützowstraße 60 a zu finden. Es war das Haus Isidor und Anna Seltens. Ernst Selten wohnte also noch bei seinen Eltern. Später zog er, vielleicht schon mit seiner Frau Elsa, in die Schillerstraße 14/15 in Charlottenburg und 1926 in die Mommsenstraße 6, vermutlich 4. Etage, Vorderhaus.

Am 16. Oktober 1927 wurde ihr Sohn Fritz Georg geboren. Er war vielleicht zwei Jahre alt als man ein Foto von ihm machte: Ein hübsches Kind mit fülligem, dunklem Haar. Seine großen wachen Augen, die denen seiner Mutter Elsa als junges Mädchen gleichen, schauen neugierig in die Kamera. Bevor man ihn rief und er sich zur Kamera wendete, hatte er gespielt. Auf einem kleinen Tisch vor ihm ist Puppengeschirr aufgebaut. Eine Spieluhr steht auf dem Boden neben dem Tisch. Eingeschult wurde Fritz vermutlich in der Kaiser-Friedrich-Schule in der Knesebeckstraße 24-25, der heutigen Juan-Miro-Grundschule, Bleibtreustraße 43. Wolfgang Blech und Bernd Fiegel, die mit ihren Eltern in der Mommsenstraße 6 wohnten, waren ebenso auf diese Schule gegangen, wie Anfang des Jahrhunderts Walter Benjamin. 

DER KLEINE FRITZ SELTEN   © Tricia und Nic Pulford

Rechtsanwalt Dr. Ernst Selten betrieb mit seinem Sozius Dr. Silvio Bodländer eine umfangreiche Anwaltskanzlei in der Potsdamer Straße 21. Zu ihren Mandanten gehörten „mehrere sehr große Gesellschaften des Baugewerbes“. Diese Aussage machte Richard Mautner, eine Zeit lang in einer Bürogemeinschaft mit Selten und Bodländer, 1957 in einer „Eidesstattlichen Versicherung“. Als Bodländer im September 1931 aus der Anwaltschaft ausschied, führte Selten die Kanzlei alleine weiter, jetzt in der Friedrichstraße 236. Sein jährliches Einkommen lag bei 20.000 bis 30.000 RM. Das wissen wir aus einer Mitteilung der Rechtsanwaltskammer Berlin vom 24. Februar 1960, abgegeben im Entschädigungsverfahren. Als „besonders gut und gepflegt gekleidet“, beschrieb Richard Mautner den Rechtsanwalt Dr. Ernst Selten. Bodländer emigrierte in die USA und änderte dem Namen in Silvio Bolan. Er starb 1957 in New York. 

1936 oder 1937 zogen Ernst und Elsa Selten mit ihrem jetzt neun Jahre alten Sohn Fritz in eine 5 ½ Zimmer-Wohnung am Kuno-Fischer-Platz 1 am Charlottenburger Lietzensee. Noch waren Ernst Selten und sein Bruder Franz Simon als Rechtsanwalt tätig. Beide schützte das von Reichspräsident Hindenburg 1933 durchgesetzte „Frontkämpferprivileg“ im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und im „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vor einer drohenden Entlassung. Bis 1938 konnten sie ihren Beruf ausüben. Danach blieb ihnen nur noch die Betreuung jüdischer Mandanten als „Konsulent“. Denn die 5. Verordnung zum Reichsbürgergesetz entzog allen jüdischen Rechtsanwälten zum 30. November 1938 die Zulassung. Ernst Seltens Praxis befand sich in der Uhlandstraße 171/172.

Wie war es den Familien Selten und Lustig ergangen? Franz Simon Selten hatte am 23. April 1912 Erna Ruhemann geheiratet und war mit ihr die Traunsteiner Straße 10 in Schöneberg gezogen. Am 11. Mai 1917 wurde ihre Tochter Eva Maria geboren. Sie war 16 Jahre alt als ihre Eltern sie im Herbst 1933 auf eine Schule in Wales schickten, damit sie ihr Abitur machen konnte. Sie besuchte noch mehrere Male ihre Eltern in Berlin, und wird ihre Verwandten, auch ihren zehn Jahre jüngeren Cousin Fritz getroffen haben. Gertrud Selten, Franz und Ernst Seltens Schwester, hatte Alfred Gräfenberg aus Göttingen geheiratet.

Harry Lustig hatte am 14. Mai 1920 Ernestine Baumblatt geheiratet. Sie bekamen zwei Kindern, am 18. Juli 1921 ihre Tochter Ruth Margot, am 14. Januar 1925 ihren Sohn Peter. Gustav Lustig hatte Margareta Mendelsohn geheiratet. Am 29. Oktober 1924 wurde ihr Sohn Heinz geboren, am 13. September 1930 ihre Tochter Ilse Ruth. Mit ihrer Mutter Marie kehrten Harry und Gustav bereits 1933/34 Deutschland den Rücken und ließen sich mit ihren Familien in Amsterdam nieder.

Im Juli 1938 reiste Elsa Selten mit ihrem Sohn Fritz nach Holland in die Sommerferien, um ihre Mutter und ihre Brüder zu besuchen. Im Seebad Nordwijk wurde ein Foto gemacht, das Fritz neben seiner Großmutter Marie zeigt. Sie sitzt in einem Korbstuhl. Fritz steht daneben, leicht gebeugt, damit er auf gleicher Höhe mit ihr ist. Ein netter Junge, aufgeweckt, lächelnd. Er ist schick gekleidet, Tennispullover, weißes Hemd, Krawatte, darüber ein Sportjackett mit Streifen. Zehn Jahre war Fritz als die Aufnahme im Seebad Nordwijk entstand. Fünf Jahre hatte er noch zu leben. Sie machten Urlaubsreisen, von denen sie nie wieder nach Deutschland hätten zurückkehren sollen, denken wir heute, doch sie kehrten zurück.

FRITZ SELTEN UND SEINE GROSSMUTTER MARIE IN NORDWIJK © Tricia und Nic Pulford

Ernst Selten und sein Bruder Franz Simon haben Deutschland nicht verlassen. Ernst Selten gehörte zu denen, die kein Aufnahmeland fanden. Ab Oktober 1938 bemühte er sich um eine Emigration in die USA und korrespondierte deswegen mit Irene Sachs, geborene Lewin, die dort seit 1937 lebte, und sich um ein Affidavit für ihn bemühte. Seinen letzten Brief an sie schrieb er im Juli 1941. Er hätte Deutschland verlassen können, erhielt aber kein Visum für die USA, da die Quoten für die Immigration ausgeschöpft waren. Die Briefe sind im Besitz von Tricia und Nic Pulford. Galt das auch für seinen Bruder Franz Simon? Seine Ehefrau Erna emigrierte 1938 nach New York, ihre Tochter Eva Maria, die 1934 in Wales ihr Abitur gemacht, danach in Schottland Chemie studierte hatte, heiratete 1940 den Chemiker Robert Rothes Goodall in England. Frau und Tochter waren in Sicherheit. Warum blieb er selbst in Berlin? Wollte er seine jüdischen Mandanten nicht im Stich lassen? Wir kennen die Gründe nicht, die ihn zum Bleiben bewogen.   

Am 23. Juni 1942 wurden Ernst Selten, seine Frau Elsa und ihr Sohn Fritz Georg deportiert. Ihr Hausrat wurde versteigert. Aus dem Protokoll einer Vernehmung des Zeugen Max Tschacher, 66 Jahre alt, Schlosser, von 1936 bis 1944 Hauswart, durch die 147. Zivilkammer des Landgerichts Berlin (Wiedergutmachungskammern) am 3. März 1955, erfahren wir näheres über die Abläufe: „Frau Selten hatte in diesem Haus eine 5 ½ Zimmerwohnung. Wenn kleinere Hausreparaturen zu machen waren, kam ich in die Wohnung Selten. Ich kann mich an einige Zimmer erinnern. Das Schlafzimmer war nach meiner Ansicht Birke. Sie hatte auch einen Flügel. Die Einrichtung war sehr gut und entsprach den sehr guten Vermögensverhältnissen. Sie hatten echte Teppiche und Brücken. Im Sommer des Jahres 1942 oder 1943 ist Frau Selten und ihre Familie abgeholt worden. Ich habe nicht bemerkt, dass Frau Selten irgendetwas vor der Deportierung verkauft hat. Gleich bei der Deportierung wurde die Wohnung von einem Kriminalbeamten versiegelt. Nach und nach sind die Sachen von irgendwelchen Beamten in Zivil abtransportiert worden. Wohin die Sachen gekommen sind, weiß ich nicht.“ 

ZEUGENAUSSAGE DES HAUSWARTS MAX TSCHACHER, 21.DEZ. 1954

(Quelle: LABO Berlin)

Das Haus in dem die Seltens gewohnt hatten, wurde bei einem alliierten Bombenangriff am 15. Februar 1944 vollständig zerstört.

Wohin Ernst Selten, seine Frau und ihr Sohn deportiert wurden, ist ungewiss. Die Angaben weichen voneinander ab. Ein studentisches Forschungsprojekt an der Humboldt Universität Berlin unter Prof. Dr. Michael Wildt kam zu dem Ergebnis, dass sie am 23. Juni 1942 mit dem „16. Berliner Osttransport“ nach Minsk deportiert wurden. Der Transport soll über Königsberg nach Minsk gelangt sein, wo zeitgleich 465 Königsberger Juden am 24. Juni 1942 nach Minsk deportiert wurden. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit“ hätten sich in diesem Transport auch die 201 Berliner Jüdinnen und Juden befunden. Sie sollen nicht in das Ghetto Minsk geleitet worden sein, sondern vom Güterbahnhof Minsk direkt nach Maly Trostinec, wo sie wohl ermordet wurden. Von ihnen gibt es kein Lebenszeichen. Fritz war fünfzehn Jahre alt. Das Amtsgerichts Charlottenburg stellte in einem Beschluss vom 27. Juni 1950 den Tod auf den 31. Dezember 1942 fest.

Niemand konnte mehr etwas zur Aufklärung beitragen. Franz Simon Selten wurde am 31. August 1942 mit dem „53. Alterstransport“ nach Theresienstadt deportiert, wo er am 11. Februar 1943 umkam. Seine Frau Erna, der es 1938 gelungen war nach New York zu emigrieren, beging dort am 12. Dezember 1948 Suizid. Ihre Schwägerin Gertrud Gräfenberg, geborene Selten, war ihr bereits am 7. Februar 1940 in den Freitod vorausgegangen. Ihr Ehemann Alfred Gräfenberg verlor 1942 im Ghetto Riga sein Leben.

Die Familienangehörigen aus Elsa Seltens Elternhaus erlitten die gleichen Qualen. Ihre Mutter, Marie Lustig, geborene Lewin, war an Krebs erkrankt und kam in ein Sanatorium, von wo sie nach Auschwitz verschleppt wurde. In Auschwitz wurde sie am 25. Januar 1943 ermordet, Gustav Lustig, seine Ehefrau Margareta und ihre Tochter Ilse Ruth Lustig ebenfalls dort am 27. August 1943, ihr Sohn Heinz am 9. April 1943 in Sobibor.

Der Nazi-Terror hatte das Leben vieler Angehöriger der Familien Selten und Lustig ausgelöscht. Es überlebten Ernst Seltens Nichte Eva Maria Selten, die Robert Rothes Goodall heiratete und vier Kinder bekam, darunter die Tochter Alison Sloan, sowie Elsa Seltens Bruder Harry Lustig, seine Ehefrau Ernestine und ihre Kinder Ruth Margot und Peter Lustig.

VON LINKS NACH RECHTS: ERNA, MARGOT UND HARRY LUSTIG, EVTL. DANEBEN ELSA UND ERNST SELTEN © Tricia und Nic Pulford

Die Erinnerung an Ernst, Elsa und Fritz Selten konnte nicht ausgelöscht werden. Schriftliche und mündliche Überlieferungen verhindern das. Wir wissen wer sie waren, aber nicht wie das Ehepaar Selten aussah. Möglicherweise sind sie auf Fotos der Familie abgebildet, doch ihre Verwandten, die die Shoa überlebt haben, können sie nicht mehr identifizieren. So sind das einzige was an sie erinnert, die drei hier abgebildeten Fotos aus ihrer Kindheit.

 

Dr. Wolf-Rüdiger Baumann

Claudia Saam

5.5.2021

DMAO 2021